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Rita Hausschild (1912 - 1950)

Rita Hauschild * 4. 1. 1912 in Moskau, + 13. 11. 1950 in Weißenau b. Ravensburg

Dr. Adalbert Saurma (verfasst 1996)

Bericht über Rita Hauschild und deren Forschungen aus den Jahren 1936/37.

In der Reihe der Forscher, die sich mit der Siedlung Tovar befasst haben, nimmt Rita Hauschild eine bedeutende Stellung ein, hat sie doch bei ihrem Aufenthalt in der Kolonie 1936/37 als Teil ihrer anthropologischen Untersuchungen erstmals die verwandtschaftlichen Verhältnisse und die Herkunft der damaligen Nachkommen der Einwanderer erfragt und aufgezeichnet. Diese Datensammlung wurde 30 Jahre später zur unentbehrlichen Grundlage der von Conrad Koch mit Hilfe der aufkommenden elektronischen Datenverarbeitung erstellten, historischen Genealogie all derjenigen Einwandererfamilien, welche trotz der ersten schweren Jahre in der Kolonie ausgeharrt hatten. Die Tovar-Forschung verdankt Frau - Fräulein nach damaligem Sprachgebrauch - Dr. phil. et med. Hauschild ferner zahlreiche standardisierte und exakt einordenbare Porträtfotos der von ihr untersuchten Tovarer.

Wissenschaftsgeschichtlich kann man sowohl Hauschilds wie auch Kochs Forschungen der im letzten Jahrhundert sich entfaltenden Anthropologie, der Lehre vom Menschen, zurechnen. Jedoch würden wir heute Rita Hauschild als physische Anthropologin, Conrad Koch hingegen als Kulturanthropologen bezeichnen; die eine Wissenschaft ist nur an der Naturgeschichte der Menschheit, die andere nur an der sozialen, psychischen und technischen Geschichte vor allem von Überschaubaren und daher vermeintlich einfacheren Gesellschaften interessiert.

Wie jede Wissenschaft können auch diese beiden Ausprägungen der Anthropologie für üble Zwecke missbraucht werden, sei es zur Manipulation der Menschen etwa durch Psychologie, sei es als propagandistische Waffe, wenn etwa aus der natürlichen Entwicklung Beweise für über- und unterlegene Rassen herausgelesen werden. Als physischer Anthropologin war Frau Hauschild fasziniert von der sog. Kraniologie, d.h. von den verschiedenen, insbesondere erblichen und umweltbedingten Faktoren, die für das regelmäßige Auftreten bestimmter Schädelformen verantwortlich sein könnten. Den Zeitgenossen der zweiten Jahrhunderthälfte ist diese Faszination kaum noch verständlich, ist doch die ganze Forschungsrichtung im Dienste der nationalsozialistischen Verblendung in Misskredit geraten. In allen ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen legt Rita Hauschild, so muss festgehalten werden, den größten Wert auf eine rein sachliche Beschreibung ihrer Resultate. Nun schützt beim „Objekt Mitmensch“ naturwissenschaftliche Objektivität selbstverständlich nicht vor Missbrauch; dies ebenso naiv wie möglicherweise ihre damals berühmten männlichen Vorbilder angenommen zu haben, kann man der noch keine 30 Jahre alten Forscherin viele Jahre später wohl kaum zum Vorwurf machen.

Rita Hauschild wurde 1912 als Tochter eines deutschen Diplomaten und seiner schweizerischen Gattin in Moskau geboren. Ab 1930 studierte sie in Berlin und arbeitete am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Dahlem. Der dort dominierende Gelehrte war Professor Eugen Fischer (1874-1967), der für Hauschild, die schon 1928 ihren Vater verloren hatte, zum über alles verehrten wissenschaftlichen Mentor und väterlichen Freund wurde. In der umfangreichen von Fischer verfassten Literatur über die Vererbbarkeit bestimmter, meist rassischer Merkmale, spielte die Kraniologie von Mischlingen eine bedeutende. Rolle. Auch Hauschild promovierte bereits 1935 bei Fischer zum Doktor der Naturwissenschaften mit einer 1937 veröffentlichten Arbeit über bestimmte, an den Schädeln von Embryonen erkennbare, rassespezifische Details.

Ihr eigentliches Forschungsinteresse galt der Frage, in welchem Kräfteverhältnis einerseits erbliche und andererseits umweltbedingte Faktoren bei der Gestaltung bestimmter menschlicher Körperpartien wie eben der Schädel stehen. Dieser Frage an zwei glücklicherweise relativ nahe beieinanderliegenden, exotischen Beispielen genauer nachzugehen, diente die von verschiedenen Seiten geförderte Reise nach Venezuela und nach Trinidad. Im Falle der westindischen Insel ging es um Kreuzungen zwischen chinesischen und negroiden Einwanderern, in einer Ergänzung in Venezuela um solche zwischen Chinesen oder Negern mit Indianern. Die Resultate dieses Reiseabschnitts konnten noch 1941 veröffentlicht werden. Bei der Forschung in Tovar galt das Interesse dem Beweis, dass sich das in der Kolonie wie in der alten badischen Heimat zunächst als gleich unterstellte Erbmaterial unter dem Einfluss der neuen Umwelt verändert hatte, was in typischer Weise unterschiedlich geformten Schädeln zum Ausdruck kommt. Die Ergebnisse dieser Forschung konnten erst 1950 in der Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie (Bd.42) publiziert werden: „Colonia Tovar. Eine anthropologische Vergleichsuntersuchung zwischen einer badischen Siedlung in Venezuela und ihren Heimatdörfern.“ Hauschild war nach der Südamerikareise zunächst weiter Assistentin an anthropologischen und anatomischen Instituten. Bei Kriegsausbruch konnte sie ein Medizinstudium in Tübingen aufnehmen, das sie 1948 mit der erwähnten Arbeit über Tovar durch die Promotion zum Doktor der Medizin abschloss. Danach war sie bis zu ihrem tödlichen Autounfall 1950 Hilfsassistentin in der Staatlichen Heilanstalt Weißenau bei Ravensburg.

Dem Aufsatz Hauschilds von 1941 kann man Angaben darüber entnehmen, mit welchen technischen Hilfsmitteln sie in Trinidad und wohl auch in Tovar ihre Untersuchungen vornahm: „Das von uns benutzte Instrumentarium bestand aus dem üblichen kleinen anthropologischen Besteck (Gleit- und Tasterzirkel, Bandmaß) und dem Anthropometer, aus der Haarfarbentafel (echte Haare), aus der Augenfarbentafel und der Hautfarbentafel. Zum Photographieren benutzten wir die Rolleiflex mit Proxarlinse und (seltener) die Leica. Als Filmmaterial wählten wir Agfa-Isopan 17/10 Din.“ Hauschild scheint unter den Anthropologen eine der ersten gewesen zu sein, die selber fotografierten. Ihre in diesem Zusammenhang vorgetragenen Argumente zeugen von ihren Bemühungen um größtmögliche Exaktheit. Es sei sonst üblich, schreibt sie 1941, Aufnahmen die Beweiskraft abzusprechen. Dies gelte aber für von Fremden übernommene Fotos. Die Dinge lägen jedoch "dort anders, wo Aufnahmen vom Forschenden selber im Hinblick auf die spätere Darstellung wirklich kritisch durchgeführt und dann von ihm selber bearbeitet werden." Das Bild vermittle „das Wesentliche: die Einzigartigkeit des Typus, was keiner noch so sehr ins Einzelne gehenden Beschreibung gelingen kann“. Schon das „Auge und das Gedächtnis eines objektiven und aufmerksamen Beobachters im Zusammensein und während der Beschäftigung mit seinem Material schulen sich so weitgehend“, dass sie „mindestens ebenso verlässlich arbeiten“ wie die oft unter Zeitdruck erstellten Protokolle.
Hauschilds 1950 erschienene, medizinische Dissertation ist natürlich zum größten Teil der bereits genannten Auswertung ihrer kraniologischen Vermessungen in der Kolonie und im Breisgau gewidmet. Unter dem Zwischentitel „Material und Methode“ erfahren wir aber auch etwas über einzelne Umstände dieser Feldforschung. Bei einer 1937 auf etwa „700 Seelen“ geschätzten Bevölkerung wurden 374 Personen, „121 Männer, 133 Frauen, 65 Knaben, 55 Mädchen“ der 1., 2. und 3. in der Kolonie geborenen Generation, ausgewählt. Nicht untersucht werden konnten unter 5 Jahre alte Kinder, ferner verkehrstechnisch und wegen der Kaffeeernte kaum erreichbare Siedler und schließlich jener kleine, baptistisch bekehrte Teil der Einwohner, der sich der Vermessung prinzipiell entzogen hatte. Am häufigsten wurden die Untersuchungen im Schulgebäude Sonntags nach dem Kirchgang vorgenommen. Bei zu fuß oder mit Maultier und Maulesel besuchten Siedlern wurde Hauschild begleitet von „meinem 'Sekretär' Peter Paul Müssle, einem kleinen aber zähen 14-jährigen Kolonistensohn, der ebenso gut schreiben und lesen konnte, wie er sich auf den schmalen Saumpfaden durch die dichten Wälder und über die weiten Bergkuppen und Talhänge seiner großräumigen Heimat auskannte“.

Bei der Erstellung der Stammtafeln, der wichtigsten Ergänzung ihrer Arbeit am einzelnen Menschen, stieß sie auf zunächst kaum zu schließende Lücken in den wenigen unsystematisch geführten Aufzeichnungen. Eine erste Hilfestellung boten der damalige Kolonieleiter Richard Aretz und der Pfarrer, Richards Bruder Karl. Da beide aber keine Kolonisten waren, mussten für die historischen Zusammenhänge andere Informationsquellen gefunden werden. „Hierbei hat mir der Kolonieälteste, der alte Pedro Müssle, damals 81 Jahre alt, unersetzlich wertvolle Dienste geleistet. Ich Hess den alten Pedro, der im Zentrum der Kolonie wohnte, häufig zu mir kommen. Bei vielen 'roncitos' (Gläschen Rum) und Zigaretten unterhielten wir uns dann über die verwandtschaftlichen Beziehungen der Kolonisten untereinander. Es war wirklich erstaunlich, wie sich der alte Pedro in den tatsächlich oft erheblich verwickelten Zusammenhängen auskannte. Dieses Wissen lag sozusagen brach in seinem sonst unbelasteten Gedächtnis. Es musste durch dauernde Fragen ans Licht gezogen werden. (...) Niemals widersprach sich der alte Pedro, selten musste er eine Antwort schuldig bleiben. Geschah dies doch einmal, dann ging er, die Frage mit seiner Frau, der alten Carolina Gerig, oder einem anderen Familienmitglied oder Freunde der älteren Generation zu besprechen.“ Der alte Pedro selber konnte nicht schreiben, aber die Lösung eines genealogischen Rätsels konnte dann von ungelenker Kinderhand geschrieben auf einem Zettel überbracht werden. „Schließlich waren die Stammbäume beisammen und auf großen Karten aufgezeichnet. Kaum konnte der Alte begreifen, dass dies alles auf Grund seiner Erzählungen entstanden war. Für unseren modernen Menschenverstand ist es hingegen ein Wunder, wie sich so eine Vielfalt von Einzelheiten im Kopf eines alten Bauern erhalten können - so völlig ohne System, das wir erst zusammen hineingebracht haben.“
Die enorme Arbeit mit der Genealogie sollte als Grundlage dafür dienen, 1938 im Kaiserstuhl möglichst viele direkte Blutsverwandte der Emigranten zu finden. „Es waren aber leider nur wenige. Die meisten erinnerten sich noch aus Berichten oder Briefen an Großonkel oder Großtanten, die nach Amerika ausgewandert sein sollten.“ Hauschild sah sich gezwungen, zwecks statistischer Nachbesserung der Vergleichsbasis auch andere, nach den damaligen Vererbungsvorstellungen möglichst ähnlich veranlagte Breisgauer aus den wichtigsten Auswanderergemeinden zu untersuchen. Die blutjunge Wissenschaftlerin fand bei diesem Teil ihres Projektes in Endingen große Hilfe, ganz ähnlich wie ein Vierteljahrhundert später Conrad Koch bei der Familie Vollherbst, nämlich bei Dr. med. Brucker, „der mir zusammen mit seiner liebenswürdigen Frau in entgegenkommendster Weise Unterkunft in seinem Hause bot und mir auch sonst vielfache Unterstützung in Rat und Tat während des längsten Teils meiner Untersuchungen im Kaiserstuhl- und Breisgaugebiet gewährt hat.“

Was bei der heutigen ungeheuren Menge wissenschaftlicher Resultate leider immer seltener der Fall sein kann, dass Ergebnisse scheinbar abgelegener oder gar rückständiger Zweige der Wissenschaften unversehens für andere Zweige interessant werden können, das ist im überschaubaren Bereich der Tovar-Forschung noch möglich. Auch Hauschilds Arbeit ist stark von den heute mythologisch wirkenden Vorstellungen um das Blut geprägt, zugleich ist sie aber für uns zur Zeugin für ein Denken in solchen Kategorien geworden, das demjenigen der Ausgewanderten näher steht und daher von ihr auch besser nachvollzogen werden konnte. Ihre Stammbäume und ihre fotografische Dokumentation sind zu unschätzbaren Vorarbeiten und Zeugnissen geworden.Die letzten Sätze ihrer im Todesjahr erschienen Arbeit lauten: „Die Statuten von Colonia Tovar sind während dieses Krieges aufgehoben worden. Damit haben sich in erster Linie dem Zuzug und der Einheirat einheimischer Bevölkerungselemente in die Kolonie die Wege geöffnet. Gleichzeitig wird dann aber wohl auch eine Auswanderung mancher Kolonisten in andere benachbarte Ortschaften oder in entferntere Landesteile Venezuelas stattfinden. Die anthropologische Untersuchung der Kolonie und die Sicherung des vorliegenden Materials geschah damals wirklich in letzter Stunde." In einem nur leicht übertragenen Sinn gilt dies wohl immer noch und immer wieder: Heute sind Sicherungen aller Art einerseits leider noch notwendiger und sollen andererseits hoffentlich in Zukunft stets möglich bleiben.