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Das Rätsel von Tovar

Lepra und ihre Überwindung bei Nachkommen deutscher Auswanderer in Venezuela

Max Hundeiker

In der Literatur über Lepra stößt man immer wieder auf den Namen einer 1843 von deutschen Auswanderern aus Südbaden (eine kleine zweite Gruppe kam 1851 aus Hessen) gegründeten Siedlung in Venezuela, der Colonia Tovar. Dort sind in allen Generationen Lepra-Erkrankungen gehäuft bei Abkömmlingen der ersten Einwanderer aufgetreten [1]. In der näheren Umgebung gab es sie nicht. Die Ortschaft war bis 1964 nicht über ausgebaute Fernstraßen zu erreichen. Wie und woher war also die Seuche dorthin gekommen? Eine Anfrage von Jacinto Convit, der jahrzehntelang in Venezuela in der Lepra-Bekämpfung gearbeitet hat, ob im deutschen Herkunftsgebiet der Siedler Lepra vorgekommen sei, konnten wir deshalb auf Anhieb verneinen, weil es seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland keine Neuerkrankungen gegeben hatte bis zur Wiedereinschleppung der Seuche aus Russland Ende des 19. Jahrhunderts [2].
Im Herkunftsgebiet der Siedler in Südbaden ist erst um 1960 eine nicht im Ausland erworbene Neuerkrankung aufgetreten [3]. Die betroffene Patientin hatte als Haushaltshilfe bei einer französischen Offiziersfamilie gearbeitet, die früher in Indochina gelebt hatte. Kein Glied der französischen Familie war jemals manifest erkrankt. Und doch könnte eins vielleicht Überträger der Erreger gewesen sein, denn bei dem früheren Hausdiener der Familie in Hanoi war später Lepra festgestellt worden.
Sicher hatten also die Siedler von Tovar die Lepra nicht aus der Heimat mitgebracht. Sie mussten sie irgendwo auf ihrem Wege nach Südamerika „mitgenommen" haben. Deshalb haben wir versucht, diesen Weg nachzuverfolgen. Heute bestehen sehr lebendige Beziehungen zwischen den Nachkommen der Siedler und ihrer Ursprungsgegend. In Endingen am Kaiserstuhl existieren ein Tovar-Museum und eine Stiftung „Colonia Tovar". Die Stiftung gibt eine eigene Schriftenreihe heraus. Diese enthält wichtige Quellen zur Geschichte der Siedlung [http:// www.colonia-tovar.de/schriftenreihe/index.html]; [4-6].
Die Auswanderer stammten aus 15 kleinen Orten im Umfeld des Kaiserstuhls. Sie wurden angeworben und geführt von dem Endinger Alexander Benitz im Auftrag des Venezolaners Coronel Codazzi. Am 18. Dezember 1842 brach Benitz mit seiner Gruppe von Endingen auf. Die Reise führte von Straßburg aus durch Frankreich bis Le Havre. Dort erwartete sie Codazzi. Der hatte ständig gedrängt, aus geschäftlichen Gründen mindestens 435 Personen für die Schiffspassage zusammen zu bringen. Aber auch die viel geringere Zahl, die zusammenkam, hätte eigentlich mit einem so kleinen Schiff nicht transportiert werden dürfen, wie dem in Le Havre (wo am wenigsten kontrolliert wurde) registrierten Segler „Clemence" (25,23 m lang, 8,4 m breit, Höhe des Zwischendecks maximal 1,85 m, Fläche allenfalls 160 m2). Deshalb vielleicht war auch die Passagierliste unvollständig. Sie enthielt nicht alle mitgekommenen Siedler. Aufgeführt sind neben Codazzi, der wohl kaum als Zwischendeck-Passagier reiste, und einem französischen Arzt 5 Franzosen, 1 Italiener und 374 Badener (145 Männer, 96 Frauen, 133 Kinder). Die Enge und die sanitären Verhältnisse an Bord müssen entsetzlich gewesen sein. Erst am 19. Januar 1843 begann die Seereise. Unterwegs erkrankten von Mannschaft und Auswanderern 50 an Pocken. Ein Matrose und 15 Auswanderer, davon 9 Kinder, starben auf der Reise. Ein Kind wurde auf See geboren und überlebte. Am 4. März 1843 erreichte die „Clemence" den venezolanischen Hafen Choronie. Sie durfte aber nicht anlanden, sondern musste vor La Guaira in Quarantäne liegen. Nach langen Querelen durften die Auswanderer dann die Isolierung an Land in Porto Maya fortsetzen, bis sie endlich mit Packeseln und zu Fuß Ende März die Reise über Land antreten konnten und am 8. April 1843 das Urwaldtal erreichten, in dem sie siedeln sollten.
Wo können bei dieser Reise Angehörige der Gruppe infiziert worden sein? Vor der Abreise gab es keine Infektionsquellen, und nach der Ankunft waren die Siedler isoliert. Nur an zwei Stellen ist direkter und indirekter Kontakt durch Ausscheidungen, gebrauchtes Geschirr, Sanitäreinrichtungen oder Wäsche [2] mit nicht erkannten Kranken unter den Seeleuten und den 6 fremden Mitreisenden vorstellbar: Beim Warten auf die Abfahrt in sehr schlechten Gasthäusern in Le Havre und während der Zwischendeckpassage unter unsäglichen hygienischen Bedingungen auf der „Clemence".
Der Diplomingenieur Alfred Schubert hat 1996 erstmals den Inhalt einer auf der Publikation von Jacin-to Convit et al. [1] aus dem Jahr 1952 beruhenden venezolanischen Broschüre über die Endemie in der Colonia Tovar in deutscher Sprache kurz zusammengefasst. Alfred Schubert, Mitglied des Freundeskreises Colonia Tovar, ist in Venezuela aufgewachsen, hat das Abitur an der Humboldtschule in Caracas abgelegt und an der Technischen Hochschule Aachen studiert. Er arbeitet gegenwärtig in Basel. Seine damalige Besprechung mit einigen Ergänzungen von Conrad Koch ist jetzt in der Internetpräsentation des Freundeskreises Tovar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden [http://www.colonia-tovar.de]. Hier möchten wir ihre wichtigsten Inhalte für die Leser zusammenfassen, denn sie schließen aus heutiger Sicht ein interessantes Kapitel der Leprageschichte ab:
1942 wurden durch den damaligen Chef der Leprakontrollbehörde des venezolanischen Gesundheitsministeriums, Dr. Fernandes Vautrai, unter 808 Bewohnern der Colonia Tovar nicht weniger als 32 Fälle von Lepra und 9 Verdachtsfälle gefunden. Kurz vor ihrem hundertjährigen Bestehen wurde die Colonia, die früher teilweise Autonomie besaß, von der Regierung zum Municipio Tovar bestimmt und der venezolanischen Verwaltung unterstellt. Das Gesundheitsministerium in Caracas leitete Untersuchungen ein, um die Ausbreitung der Lepra unter Kontrolle zu bringen und die Bekämpfung der Krankheit voranzutreiben.
1950 wurden 1126 Bewohner der Colonia Tovar auf Lepra untersucht. Dabei wurden 113 Fälle gefunden. Diese große Anzahl Erkrankter machte die Colonia Tovar damals zu einem der am stärksten von Lepra befallenen Gebiete in Venezuela. Betroffen waren nicht weniger als 10 % der Einwohner. Der Anteil Erkrankter betrug bei Männern 12 %, bei Frauen 8 %. Männer waren also stärker befallen als Frauen.
Zugleich wurden in dieser Studie alle Personen auch auf Tuberkulose untersucht. Dabei ergab sich eine starke Abhängigkeit zwischen Tuberkulose- und Leprafällen. Wegen Überschneidungen immunologischer Reaktionen auf beide Mykobakterien-Arten wurde vermutet, dass Tuberkuloseimpfungen die Resistenz gegen Lepra stärken würden.
Im gleichen Jahre, 1950, wurden deshalb erneut 107 Personen auf Lepra untersucht und 106 davon gegen Tuberkulose geimpft. Diese Gruppe wurde anschließend dreieinhalb Jahre lang medizinisch überprüft. Dabei konnten alle außer einer Person als nicht befallen eingestuft werden. Die einzige Person, bei der dies nicht der Fall war, war vorher nicht zu den Impfungen erschienen.
Wichtig ist ein Rückblick auf die einstigen hygienischen Bedingungen: Nach Untersuchungen von Prof. Conrad Koch zu Anfang der 1960er Jahre hatten von 171 Häusern nur 72 eine Wasserleitung und Toilette mit Wasserspülung. Die Bewohner von 44 Häusern holten damals noch Wasser aus einem nahe gelegenen Bach.
Das hat sich in den seither vergangenen Jahrzehnten grundlegend geändert. Die früher etwas abgelegene und nicht gerade reiche Siedlung hat sich nach Anbindung an das Fernstraßennetz zu einem sehr beliebten Ausflugsort mit hohem sozialen Standard, hervorragender Infrastruktur und überall besten hygienischen Bedingungen entwickelt.
Damit sind die schon vor einem Jahrhundert von Robert Koch [2] dargestellten wesentlichen Voraussetzungen für die Verbreitung der Erreger - weniger, wie oft dargestellt, die Armut, sondern die damit nicht immer zwingend zusammenhängende mangelhafte Hygiene - nicht mehr vorhanden. Durch diese Entwicklung und durch planvolle medizinische Arbeit ist jetzt die Lepra in der Colonia Tovar überwunden.

Max Hundeiker, Münster


Literatur:
1. Convit J, Gonzales C L, Rassi E: Estudios sobre lepra en el grupo étnico alemán de la Colonia Tovar, Venezuela. Internat J Leprosy 1952; 20, 185-193.
2. Koch R: Die Lepraerkrankungen im Kreise Memel. Abdruck aus dem Klinischen Jahrbuch, Band 6, Jena 1897.
3. Kalkoff K W, Holtz K H: Leprainfektionen in Deutschland, Dtsch Med Wochenschr 1964; 89: 1057-1063.
4. Koch C: Vom Kaiserstuhl in ein gerodetes Urwaldtal. Schriftenreihe der Stiftung Colonia Tovar 2000; Heft 14.
5. Vollherbst FJ: Abschied von Prof. Dr. Conrad Koch. Schriftenreihe der Stiftung Colonia Tovar 2006; Heft 18.

Herrn Peter Vollherbst, Endingen, danke ich für seine Hilfe bei der Suche nach den Quellen.



Anmerkung der Redaktion:

An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Max Hundeiker für diesen aufschlussreichen, wissenschaftlich fundierten Aufsatz recht herzlich bedanken. Erschienen in:
DIE KLAPPER, Mitteilung der Gesellschaft für Leprakunde e.V. (16, 2008).

Zur Person von Max Hundeiker:

Prof. Dr. Max Hundeiker, geb. 1937
Dermatologe, Studium in Tübingen und Freiburg, Examina und Promotion in Freiburg.
Medizinalassistentenzeiten in Ratzeburg, Bad Oldesloe, und den Korker Anstalten, dann Tätigkeit in der Anatomie und Fachweiterbildung in der Univ.-Hautklinik Freiburg.
1970 leitender Oberarzt der Univ.-Hautklinik Gießen, 1984 leitender Arzt der Fachklinik Hornheide an der Universität Münster.
Seit Herbst 2001 im Ruhestand.