Codazzis Suche nach einem Siedlungsgebiet
Prof. Dr. Conrad Koch
Die Freiburger Zeitung druckte im Januar 1844 aus dem zweisprachigen „Boletin de la Colonia Tovar“ Auszüge ab, in denen über die frühen Anfänge des Siedlungsprojektes berichtet wird. Die Regierung war willens, Gründungen von Ackerbaukolonien zu unterstützen, für die man europäische Auswanderer in das Land holen wollte. Der Kongress des damals noch sehr jungen Landes Venezuela wollte in Anlehnung an den hohen Einwanderungserfolg der U.S.A. einen ähnlichen Weg gehen, wie es das große Land im Norden seit Generationen praktizierte.
Aus diesem Grunde richtete der Innenminister Angel Quintero im September 1840 an den in venezolanischen Diensten stehenden Geographen Coronel Agustin Codazzi ein Schreiben, in dem dieser gebeten wurde, Gutachten für die Lokalisation geplanter Ackerbaukolonien in Venezuela zu erstellen.
(Zitat: Freiburger Zeitung 26., 27. und 28. Januar 1844)
Geschichtlicher Theil
Der Oberst Augustin Codazzi war in Paris damit beschäftigt, seine chorographischen Arbeiten herauszugeben, als er von Dor. Anjel Quinterro, damals Minister des Inneren, einen Bericht (datiert vom 17. Sept. 1840) erhielt, in welchem die Regierung dessen Gutachten verlangte über die passendsten Orte für Anlegung von Colonien in Venezuela.
Dieser Umstand ließ den Oberst Codazzi von Frankreich aus den Entschluß fassen, eine Colonie zu gründen und in der That zog er über die passendsten Gegenden Europas Erkundigungen ein, um von dort die Bevölkerung für sein Vorhaben zu wählen. Ganz natürlich wendeten sich seine Blicke nach Deutschland, woher die vereinigten Staaten immer ihre großen Einwanderungen erhalten haben. Er kam sofort in Berührung mit Männern von großer Sachkenntnis, wie das gelehrt Institutsmitglied Boussingault und der bekannte und berühmte Reisende, Baron v. Humboldt, mit welchen er sein Vorhaben weitläufig betrieb.
Unter anderen Deutschen, mit welchen er diesen Entwurf beriet, war Alexander Benitz einer, welcher zu dieser Zeit die Karte von Venezuela gravierte, und als dieser ausgezeichnete Künstler das Einwanderungsgesetz und den Plan von Codazzi eingesehen hatte, schrieb er in sein Vaterland, um zu erfahren, ob man dort die benötigte Anzahl Individuen für die erste Unternehmung zusammenbringen könnte. Obschon die Antwort günstig lautete, verlangte man, dass Benitz sich selbst nach Venezuela begebe, um das Land zu sehen, das Klima zu untersuchen und genaue Nachrichten über die Lage und Beschaffenheit des Feldes geben zu können, wo man die Ansiedlung zu gründen gedachte.
Von großem Vergnügen war es für Codazzi, als ihm Beniz die Anbietung machte, mit ihm nach Venezuela zu reisen, um seine Freunde zufrieden zu stellen und zugleich sich mit einem Theile seiner Familie dort niederzulassen, wenn das Klima gesund und die Felder fruchtbar wären.
Anfang August 1841 langten sie vereint in La Quaira an, und Benitz blieb einstweilen in Caracas, während Codazzi die Gebirge an der Küste hin durchstrich, die Berggipfel überstieg und solche Stellen untersuchte, wohin noch niemand vor ihm gekommen war.
Während Benitz in Caracas topographische Arbeiten ausführte, begab sich Oberst Codazzi auf mehrere Reisen in das Landesinnere. Er suchte nach einem großflächigen Siedlungsgebiet mit einem geeigneten Klima für europäische Einwanderer, das zugleich in der Nähe des Meeres und einer Stadt gelegen sein sollte. Codazzi trachtete auch danach, Absatzmöglichkeiten von Agrarprodukten aus der Kolonie in seine Überlegungen mit einzubeziehen.
Wie ernsthaft Codazzi sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe widmete, ist daraus zu ersehen, dass er bereits vier Siedlungsgebiete untersucht hatte, ohne jedoch davon überzeugt zu sein, dass er auch nur eines von ihnen dem Kongress empfehlen könnte. Codazzi ging bei seinen Planungsarbeiten deshalb so sorgfältig vor, weil die von ihm erbetenen Gutachten der Regierung als Modell für eine erste Mustersiedlung dienen sollten, nach deren Realisierung im gleichen Stil weitere gegründet werden könnten.
Einige Großgrundbesitzer aus La Victoria, die in der Trockenzeit unter Wassermangel litten, schlugen ihm vor, das nördlich der Stadt gelegene Berggebiet näher zu untersuchen, da es dort Täler geben sollte, die seine Voraussetzungen weitgehend erfüllen könnten. Diese Anregungen waren nicht ganz uneigennützig an ihn herangetragen worden. Sie hatten auch einen praktischen Grund. Die Landbesitzer baten Codazzi zugleich auch zu prüfen, ob sich aus dem wasserreichen, nördlichen Berggebiet vielleicht ein Teil des Wassers in das zeitweise unter Trockenheit leidende Araguatal umleiten ließe.
Codazzi folgte den Anregungen, die nördlich von La Victoria gelegenen Berggebiete in seine Planungen mit einzubeziehen, und stellte wiederum ein Forschungsteam für eine neue, nun fünfte Exkursion zusammen.
Am 11.Oktober 1841 startete er von La Victoria aus mit den in Caracas bekannten Persönlichkeiten, Senor Ramon Diaz und Joseph Hildalgo. Auch hatte Codazzi noch 12 Maultiertreiber und Arbeiter angeheuert.
An den ersten zwei Tagen gingen sie auf den Bergkämmen entlang und stellten hierbei sehr bald fest, dass der Wunsch ,Wasser von den Berggebieten in das Araguatal leiten zu können, wegen der geographischen Gegebenheiten nicht zu realisieren sei.
Die folgende Nacht schliefen sie auf einem hohen Berggipfel, wo kein anderes Trinkwasser, als was an dem dicht gedrängten Laube von Schmarotzerpflanzen herabträufelte.
Alle Mühen, die diese Männer auf sich genommen hatten, waren indessen nicht vergebens. Im Gegenteil, sie wurden am nächsten Tage durch eine unerwartete Entdeckung dafür belohnt.
Mit Tagesanbruch gingen sie auf derselben Bergkette fort, welche ihre erste Richtung jetzt ein wenig nach Westen veränderte. Der Marsch ging langsam, weil man sich mit den Säbeln Bahn machen musste durch das dichte Gesträuch, das sich fast immer auf diesen Berghöhen befindet, wo sie dann auf einen gut betretenen Fußweg stießen, der aber seit Jahrhunderten nicht gebraucht worden zu seyn schien. Diese Wege konnten, wie der Führer behauptete, nicht durch Tapire oder andere Thiere gemacht worden sein, denn da würde das Gesträuch eine Oeffnung gehabt haben, man muß also annehmen, dass diese Wege vielleicht vor der Entdeckung Amerikas von Menschen gebraucht wurden.
Die Reaktion Codazzis beim Anblick der Wegspuren, die nur Ureinwohner zugeordnet werden konnten, ist uns leider nicht überliefert. Aber ich nehme an, dass der Coronel, als er erkannte, dass er auf Reste eines sehr alten Fußweges gestoßen war, der augenscheinlich schon vor der Entdeckung Amerikas angelegt worden war, folgerte, dass diese Spur ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein Tal führen müsste, in dem schon von alters her Ackerbau betrieben worden war. Er setzte unverdrossen seine Erkundungsreise trotz des nun aufkommenden Nebels fort.
Um neun Uhr morgens befanden sich die Reisenden auf einer Höhe, von welcher der Führer versicherte, dass es der Pic von Maya sey: dichter Nebel bedeckte jene karken Wälder tiefer Bergketten. Einige stiegen auf Bäume, konnten aber nichts unterscheiden, man fasste Misstrauen in den Führer, welcher vor Nebel sich nicht auszukennen behauptete. Da sie keine bessere Witterung erwarten konnten, so gingen sie auf dem Bergrücken westlich fort bis auf einen erhabneren Punkt, den man in einiger Entfernung sah. Indem sie so ihre Richtung nahmen, behauptete der Führer, dass das Wasser zur Rechten, das heißt, das nördlich seine Richtung nimmt, ins Meer fließe, und das zur Linken, nachdem es den Fluß Tigre gebildet, sich mit dem Aragua vereinigte. Später überzeugte sich Codazzi, dass die erste Behauptung ungenau war, denn das Wasser zur Rechten ist das, welches von den Höhen des Tuythales kommt, und wo sich jetzt die Colonie befindet.
Weil man aber damals wegen des Nebels die Hauptgebirgskette nicht sehen konnte, so glaubten die Reisenden der Versicherung des Führers, dass sie sich darauf befänden. Indeß bemerkte bald Einer, der den Compaß in der hand hatte, dass der Wegweiser statt westlich zu sehr östlich führe; sie überzeugten sich, dass er des Weges selbst nicht kundig war, und nur als Jäger in diese Gegend gekommen seyn mochte. Deshalb entschloß sich Codazzi, den Marsch, den Compaß in der Hand, selbst zu leiten. Gegen Norden hörte man das Geräusch eines ziemlich starken Baches und immer in der Meinung, dieses Wasser fließe dem Meere zu, entschlossen sie sich, in das Thal hinabzusteigen und seinem Laufe zu folgen, überzeugt, dass er sie an irgend einen Punkt der Küste führe.
Das Land, das anfangs bis zu einem kleinen Bache ziemlich abhängig war, wurde bald ebner, und nachdem sie über einen größeren Bach gegangen, der durch die Menge des Wassers zeigte, dass er schon Zufluß von vielen Quellen erhalten habe, stießen sie auf abgeplattete Hügel und terrassenförmig sich anreihende Flächen, welche durch Täuschung im Wald ihnen wie große Ebenen vorkamen. Indem sie dieselben untersuchen wollten, entschlossen sie sich, den Boden nach verschiedenen Richtungen zu durchkreuzen und trafen immer starke Quellen, und sanfte Abhänge, die zwar sich immer gegen Osten neigten und von Entfernung zu Entfernung prächtige Ebenen bildeten, wie die Stufen einer großen Treppe. Um vier Uhr Abends blieben sie stehen, um eine Hütte zu machen und dort die Nacht zuzubringen.
Die Wegweiser, immer in der Meinung, dieses sey die Gegend, deren Wasser ins Meer abfließt, versicherte, da? man sich im Palmar de Cagua befinde, der den Jägern von Caropaca bekannt ist durch ihre Streifereien bis in die Thäler von La Cruz und Mana. Dieser Umstand und die Beschaffenheit des Bodens zogen die Wanderer so an, dass H. Ramon Diaz dem Oberst Codazzi das Anerbieten machte, ihn in seinem Unternehmen unterstützen zu wollen, wenn die Colonie auf diesem Platze angelegt würde. Eine Hütte ist bald fertig, wenn Material genug vorhanden. Ein Balken mit Lianen an zwei Bäumen befestigt, diente als Fist, an die man einige Stangen anlehnt, die als Sparren dienten; sofort wurden Latten darüber gebunden, und alles hinlänglich mit Palmblättern bedeckt. In der Hütte machte man ein Loch, von einer halben Bara tief und stellte das Thermometer hinein, um am anderen Morgen die mit mittlere Temperatur von dieser Stelle zu bestimmen. Ein leichtes und sicheres Verfahren, dass der gelehrte Boussigault oft in unserem Klima versucht hatte, und dessen sich Codazzi häufig bediente während der Reisen, für seine chorographischen Arbeiten. Die Temperatur des Orts, wo die Reisenden hielten war 17° des hunderttheiligen Thermometers und es war dieselbe Stelle, wo nachher die Colonie gegründet wurde, hundert Baras vom wirklichen Platze entfernt, östlich an einem kleinen Graben.
Aus diesen Schilderungen, die vor 159 Jahren in Tovar niedergeschrieben wurden, geht sehr deutlich eine einzigartige Faszination aus, die dieses Tal auch heute noch auf viele seiner Besucher auszuüben vermag. Don Ramon Diaz wird sie wohl ebenfalls verspürt haben, als er Codazzi spontan seine Unterstützung zusagte, „Wenn die Colonie auf diesem Platze angelegt würde.“
Auch ich erinnere mich noch recht gut an meinen ersten Besuch in Tovar. Im Jahr 1953 hatte ich von der Dirección Forestál den Auftrag erhalten, einen Bildbericht über die Zugangswege zur Colonie zu erstellen.
Da wir die Colonia Tovar noch nicht kannten, beschloss ich, die Reise dorthin gemeinsam mit meiner Frau zu unternehmen. Wir hatten dafür zwei bis drei Tage vorgesehen. Man konnte damals die alemannische Siedlung praktisch nur mit einem Jeep erreichen. Für den wegen seiner ungesicherten und steilen Abhänge recht gefährlichen Weg benötigte man damals noch mehrere Stunden.
Während dieser Fahrt erwähnte ich kurz vor der Siedlung, dass sich zwei deutsche Familien aus Caracas Wochenendhäuser in Tovar gebaut hätten.
Meine Frau, der bei dieser Fahrt nicht sehr wohl war, antwortete mir: „Na, die müssen ja wirklich wohl einen Tropenkoller haben.“ Als wir zwei Tage in dem grünen Tal mit seinem angenehmen Klima verbracht hatten und von den Tovarern auch sehr freundlich aufgenommen wurden, schien uns die Idee, dort ein Wochenendhaus zu bauen, keineswegs mehr so abnormal. Ich erinnere mich noch recht genau daran, wie wir am Tag vor unserer Rückreise Hand in Hand über die sanften Hänge unterhalb der Kirche gingen und uns nach einem geeigneten Landstück umschauten. So hatte auch uns dieses Tal in seinen Bann gezogen. Wenn ich auf die letzten 50 Jahre schaue, so hat diese Faszination bis heute angehalten.